Alle Beiträge von dorothee

Eine Baumgeschichte

Ich brenne. Feuer erweckte mich zum Leben, Feuer nimmt es mir wieder. Andere Bäume haben mir erzählt, dass das Feuer mich, als ich noch eine Samenkapsel war, zum Keimen brachte. Das Feuer vernichte altes Leben, um neues Leben zu ermöglichen, sagten sie. Auch ich war damals junges Leben, aber ich erinnere mich nicht mehr daran.
Heute bin ich alt. Sehr alt sogar, vielleicht uralt, vielleicht älter; ich weiß es nicht mehr so genau. Ich sah junges Leben sprießen im Überfluss, rings um mich herum, auf allen Seiten. Aber heute ist es nicht mehr. Eine Baumgeschichte weiterlesen

Die Geschichte vom Traum

Ich hatte etwas geträumt. Einen schönen, netten Traum.

Doch: Kurz vor dem Aufwachen wurde eine der lieben Traumfiguren plötzlich panisch. Sie hatte irrsinnige Angst zu sterben. Sagte zu mir, ich darf nicht aufwachen, weil sonst stirbt sie ja. Wahnsinnig geworden.

Sterben? Meine Traumfigur? Glaubte plötzlich selbst zu sein?

Identifizierte sich mit sich selbst.

Was tun?

Normalerweise denke ich mir, sie ist nicht ganz bei Sinnen und wache einfach auf. Ist ja auch verrückt! Aber: Sie hatte mich bereits gefangen. Ich begann ihr zu erklären, dass es nur ein Traum, MEIN Traum, ist. Dass das alles ein Unsinn ist. Sie begann zu weinen.

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Die Geschichte von der traurigen Traurigkeit

Als die glutrote Sonne am Horizont dem Tag langsam entschwinden wollte, 
ging eine kleine zerbrechlich wirkende Frau einen staubigen Feldweg entlang.
 Sie war wohl schon recht alt, doch ihr Gang war leicht und ihr Lächeln 
hatte den frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens.

Fast am Ende dieses Weges,
 saß eine zusammengekauerte Gestalt, die regungslos auf den trockenen,
 ausgedörrten Sandboden hinunter starrte. 
Man konnte nicht viel erkennen, 
das Wesen das dort im Staub des Weges saß, schien beinahe körperlos zu sein. 
Es erinnerte an eine graue aber weiche Flanelldecke mit menschlichen Konturen.

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Achte gut auf diesen Tag

Achte gut auf diesen Tag, denn er ist das Leben –
das Leben allen Lebens.
In seinem kurzen Ablauf liegt alle Wirklichkeit und Wahrheit des Daseins,
die Wonne des Wachsens, die Herrlichkeit der Kraft.
Denn das Gestern ist nichts als ein Traum
und das Morgen nur eine Vision.
Das Heute jedoch – recht gelebt –
macht jedes Gestern zu einem Traum voller Glück
und das Morgen zu einer Vision voller Hoffnung.
Darum achte gut auf diesen Tag.

aus dem Sanskrit

Nicht wir

Es sind nicht wir, die einen Zustand erreichen.
Es ist der Zustand, der uns erreicht.

Es sind nicht wir, die Stille erschaffen.
Es ist die Stille, die uns durchdringt.

Lasst es uns erlauben, dass die Freiheit uns wieder auffrischt,
sie in uns eindringt, in uns Platz nimmt für einige Momente,
uns verlässt, zu uns zurückkommt…

Dies ist das Schwierigste zu erreichen:
die Akzeptanz der Freiheit der Bewegung,
der Kreativität des Lebens –
zu verstehen, dass ein unveränderlicher Zustand,
so wundervoll er auch sein mag,
mit dem Leben nicht vereinbar ist.

Daniel Odier

Erfolg

„Es hat derjenige Erfolg erzielt, der gut gelebt hat, oft lachte und viel geliebt hat.
Der sich den Respekt von intelligenten Menschen verdiente und die Liebe von kleinen Kindern; der eine Lücke gefunden hat, und der seine Aufgabe erfüllte; ob entweder durch schöne Blumen, die er züchtete, ein vollendetes Gedicht oder eine gerettete Seele; dem es nie an Dankbarkeit fehlte und der die Schönheit unserer Erde zu schätzen wusste, und der nie versäumte, dies auszudrücken; der immer das Beste gab, dessen Leben eine Inspiration war und die Erinnerung an ihn ein Segen.“

Bessie A. Stanley

Entwicklung

Man muss den Dingen
Die eigene, stille, 
ungestörte Entwicklung lassen,
’die tief von innen kommt,
und durch nichts gedrängt 
oder beschleunigt werden kann;

alles ist austragen – 
und dann 
Gebären…
Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen 
des Frühlings steht,
ohne Angst, 
dass dahinter kein Sommer 
kommen könnte.

Er kommt doch!

Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, 
als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,
so sorglos still und weit …

Man muss Geduld haben, 
gegen das Ungelöste im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben, 
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache 
geschrieben sind.

Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages 
in die Antwort hinein.

Rainer Maria Rilke

Tod und Liebe

Nur der Tod und die Liebe
ändern die Dinge
darum such´ ich das Ende
allen Wissens
die Stille inmitten des Lärmes
die Leere in aller Fülle
den Abschied von aller Gewohnheit
und sterbe
hinein ins Fühlen von dem
was die Liebe ist

Daniéle Nicolet Widmer

Stufen

Wie jede Blüte welkt
und jede Jugend dem Alter weicht,
blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in and’re, neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
an keinem wie an einer Heimat hängen,
der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten!

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise

und traulich eingewohnt, 
so droht Erschlaffen!

Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewohnheit sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegen senden:

des Lebens Ruf an uns wird niemals enden.

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Hermann Hesse