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Ich bin von der Erde

Ich bin von der Erde
Sie ist meine Mutter
Sie gebar mich mit Stolz
Sie zog mich auf mit Liebe
Sie wiegte mich am Abend
Sie schob den Wind herbei und lies ihn singen
Sie errichtete mir ein Haus aus harmonischen Farben
Sie nährte mich mit Früchten ihrer Felder
Sie belohnte mich mit Erinnerungen an ihr Lächeln
Sie bestrafte mich mit dem Dahinschmelzen der Zeit

Und am Ende
wenn ich mich danach sehne
fortzugehen
wird sie mich umarmen
für alle Ewigkeit

Anna L. Walters

Aus ganzer Seele leben

Wenn du aus ganzer Seele lebst,
dann versuchst du nicht,
dich gegen das Leid im Leben unempfindlich zu machen.
Noch wirst du durch die Grimmigkeit des Lebens
so überwältigt, das dich Verzweiflung verschlingt.
Stattdessen blicke dem Schmerz ins Auge,
während du dich inmitten seiner beruhigst, tröstest und ermutigst.
Und dann lasse ihn dich verwandeln,
dich empfindsamer machen,
dich mit Mitgefühl erfüllen.
Wisse,
daß er dich später für tiefe Freude offen machen wird.

Wenn du aus deiner Seele heraus lebst
bist du der Held deines eigenen Lebens.
Lege deine Energie und Intensität in das du-selbst-sein hinein.

Niemand anderer ist in der Lage,
das so vollkommen zu tun
wie du.

Verfasser unbekannt

Herbst

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen.
Diese Hand da fällt.
Und sieh Dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

Rainer Maria Rilke

Genug

Es hat aufgehört zu regnen.

Als ich wach wurde, hat es eine Zeitlang gedauert, bis mir klar wurde was anders ist.
Tagelang rauschte und plätscherte es ununterbrochen.
Draußen ist es jetzt still.

Dafür rauschte es in mir.
… gerade trage ich schwer an all den Verbindlichkeiten und Vorhaben. … ich fühle mich hilflos, überfordert und bin erschöpft, …

In den Morgenseiten schrieb ich alles auf, was rumort in mir und fühlte was ist, … keine Lösung, keine Veränderung, …

Dann kam der Satz:
“Du tust dein Bestes, das ist genug”

Da war es auch in mir still.

Was heißt Sterben?

Ich stehe an einem Ufer.
Eine Brigg segelt in der Morgenbrise
und steuert aufs offene Meer.
Das ist ein herrlicher Anblick, und ich
stehe da und sehe ihr nach, bis sie
zuletzt am Horizont verschwindet.

Jemand neben mir sagt:
„Jetzt ist sie nicht mehr da.“
Nicht da! Wo dann?
Nicht da für meine Augen – das ist alles.
Die Ferne und das „Nicht-da-Sein“
sind auf meiner, nicht auf ihrer Seite.
Und gerade in dem Moment, da hier,
neben mir, einer sagt:
„Jetzt ist sie nicht mehr da“
gibt es andere, die sie kommen sehen,
und andere Stimmen rufen freudig aus:
„Da ist sie!“
Und das heißt Sterben.

Entwicklung

Man muss den Dingen
Die eigene, stille, 
ungestörte Entwicklung lassen,
’die tief von innen kommt,
und durch nichts gedrängt 
oder beschleunigt werden kann;

alles ist austragen – 
und dann 
Gebären…
Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen 
des Frühlings steht,
ohne Angst, 
dass dahinter kein Sommer 
kommen könnte.

Er kommt doch!

Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, 
als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,
so sorglos still und weit …

Man muss Geduld haben, 
gegen das Ungelöste im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben, 
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache 
geschrieben sind.

Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages 
in die Antwort hinein.

Rainer Maria Rilke